Sonntag, 31. Mai 2009

Die Odyssee in den Worten von Gerhard Stenkamp, Teil 1

Auftakt

Muse, Du Tochter des Zeus und Göttin der Künste,
Muse, singe uns nun von jenen Taten
des ideenreichen Odysseus,
der so weit geirrt nachdem er Troia zerstört
verließ.

Er sah die Städte so vieler Völker
Und lernte sie kennen,
er litt die Qualen des salzigen Meeres,
kämpfend um seiner Seele Heil
und seiner Kameraden.

Er scheiterte und
rettete die Freunde nicht
trotz all seinem Mühen.

Sie bereiteten doch selbst ihr Verderben:
Schlachten die Rinder des Sonnengottes
Hyperion,
verloren seid ihr, Kameraden!

Muse, Tochter des Zeus,
erzähle uns und singe,
beginne wo immer Du willst.

Die Nymphe Kalypso

All die,
die den Krieg überlebten,
waren heimgekehrt,
hatten überwunden die Gefahren
des Krieges und
des Meeres.

Odysseus allein
ward gehindert zurückzukehren
zur Frau,
der geliebten:
Kalypso, die Nymphe,
hielt ihn
in ihrer gewölbten Grotte
und wünschte sich ihm zu vermählen.

Selbst als das Jahr anbrach,
das die Götter bestimmten
zu seiner Heimkehr
nach Ithaka,
gelang es ihm nicht
sich loszulösen.

Mitleid ob solchen Loses
erfüllte die Götter,
Poseidon aber verfolgte ihn weiter
mit nicht enden wollender
Bösartigkeit.

Aigisthos

Poseidon jedoch war zu Besuch bei den Äthiopiern,
in jenem am weitest entfernten Teil der Welt,
deren eine Hälfte dort lebt, wo die Sonne untergeht,
deren andere, wo sie sich erhebt.

Er hatte angenommen ein Opfer
aus Stieren und Widdern
und sass da, sie zu verzehren.

Die übrigen Götter inzwischen
hatten sich versammelt
im Palast des Olympiers Zeus,
Vater der Menschheit und Götter.

Zeus gedachte des hübschen Aigisthos,
den Orest, des Agamemnons Sohn,
getötet.

Mit Aigisthos im Sinn wandte er sich an
die Unsterblichen :

Wie erbärmlich ist es, dass die Menschen uns Götter
anklagen,
uns ansehen als die Ursache des Übels,
im dem sie hausen,
wo es doch ihre eigenen Übertretungen sind,
was sie ins Elend wirft,
Elend, das nicht ihr Schicksal war.

Denkt an Aigisthos :
Es war nicht sein Schicksal
Agamemnons Frau zu verführen,
ihren Ehemann zu morden,
als er nach Hause kam.

Er wusste: nichts als
völliges Desaster wäre die Folge,
denn wir hatten ihm Hermes gesandt,
den Götterboten,
ihn zu warnen
und weder zu töten noch zu verführen.

Denn Orest,
das sagte ihm Hermes, würde den Vater,
Agamemnon,
zwangsläufig rächen,
sobald erwachsen und es ihn zurück
in die Heimat verlangte.

Doch folgte Aigisthos nicht
dem doch so freundlichen Rat
und zahlt er nun den letzten und
den höchsten Preis für sein sündiges
Leben.

Die Rede der Göttin Athene

Athene, die Göttin der leuchtenden Augen,
antwortete Zeus:
Du, unser Vater, Sohn des Kronos, König der Könige,
des Aigisthos Tod ist,
was er verdiente,
allen das gleiche Los,
die so handeln wie er!

Doch das Elend des
weisen Helden Odysseus
bedrückt mein Herz,
so lang schon getrennt
von den Seinen,
sich verzehrend vor Sehnsucht,
weit weg auf einsamer Insel,
umspült vom Meere.

Die Insel ist schön bewaldet und
eine Göttin lebt dort,
die Tochter des arglistigen Atlas,
der kennt die Tiefen der Seen
und trägt die Säulen des
Himmels.

Es ist seine Tochter,
die den Unglücklichen gefangen hält:
sie schmeichelt und umsäuselt ihn
mit sanften überredenden Worten,
Tag für Tag,

und Odysseus, der alles geben würde,
allein nur den Rauch der Hütten seiner Heimat
zu sehen,
bleibt nichts als sich den Tod
zu wünschen.

Doch dein olympisches Herz,
oh Zeus,
bleibt ungerührt.

Sag mir:
all die Opfer, denen
Odysseus sich unterwarf
auf den Ebenen Troias
finden keine Gunst bei Dir,
warum zürnst Du
Odysseus?