Sonntag, 12. November 2023

Kurzgeschichte: Anastasiya

Den kurzen Weg zur Mensa fuhr er mit dem Fahrrad, wie meistens, auch wenn es nur wenige hundert Meter von der Bibliothek zu Fuß dorthin gewesen wären: Es war die innere Unruhe, dieses Gefühl, alles möglichst rasch zu erledigen, um einem Ziel näher zu kommen, das er aber gar nicht genau zu benennen gewusst hätte. Er wusste nur, dass er traurig war, und diese Traurigkeit fühlte er auf dem Fahrrad weniger. 

Er hatte ein Gedicht geschrieben mit dem Namen "Charybdis" und glaubte, dass es einen Durchbruch bedeuten würde für seine geistige Entwicklung, dass nach diesem Durchbruch Gedichte aus ihm zu fließen begännen, wie ein ausgetrockneter Bach nach langem Frühlingsregen sich wieder füllt mit klarem, fruchtbarem Wasser, allen und allem zur Freude.

Seit mehr als 10 Jahren erzielte er diese Durchbrüche, die sich aber bedauerlicherweise einige Tage später oder längstens Wochen später als Irrtümer erwiesen, eine neue Sackgasse hatte sich statt dessen ergeben, ein Hindernis aufgetan und er musste versuchen erneut einen Durchbruch zu erringen.   

Auf Dauer war das nicht nur nervlich erschöpfend, es desintegrierte ihn, erheblich, so, dass er zum Beispiel wieder anfing zu rauchen, obwohl er vor einigen Tagen erst seine letzte Zigarette geraucht hatte oder aber auch musste er sich berauschen, um die Kraft zu sammeln für einen erneuten Durchbruch.

"Dieses Hin und Her hat einen demoralisierenden Effekt", dachte er, es macht mich unattraktiv, um eine Frau für mich zu gewinnen, zumindest unattraktiv bei jenen, die ich begehre. Begehren, das war das richtige Wort, denn er begehrte viele Frauen nicht, schätzte sie, aber seine Gefühle blieben unaufgewühlt.  

Die Blätter der Platanen begannen sich herbstlich zu färben und bei jedem Windstoß taumelten sie vielfältig hinab im schwach gewordenen Licht des sonnigen Oktobertages. Als er die kleine Eingangstreppe in den Vorhof des Gebäudes hinabschritt, prallte er unerwartet und plötzlich auf das lächelnde, helle Gesicht Anastasiyas.

Sie war schon einige Zeit aus Barcelona zurück, er hatte sie aber bisher nicht getroffen, da ihr Geliebter mitgekommen war, den sie dort kennengelernt hatte.

Mit Glockenstimme, zumindest kam es ihm so vor, begrüßte sie ihn: "Hallo" und er antwortete auch mit "Hallo", aber heiser und er musste sich danach räuspern.

“Wie geht es Dir?” fragte sie weiter lächelnd, freundlich, offen.

“Gut, seit wann bist Du zurück?”, fragte er scheinheilig, denn er hatte nachgeforscht und wusste es, aber er war unsicher und nervös, ihm war nichts zwangloseres oder beeindruckenderes eingefallen.

Sie lächelte weiter offen und antwortete “Seit zehn Tagen”. 

“Hast du Lust, dass wir zusammen essen gehen oder hast du schon etwas anderes vor?” 

Das war gut, dachte er, sie sieht, dass ich sie nicht dränge, ich habe meine innere Fassung wiedergewonnen, sie sieht, dass ich ihr nicht böse bin, aber sie nach wie vor begehre. 

Anastasiya hatte ihn verlassen, für einen Mann, den sie in ihren Briefen als “unerotisch" beschrieben hatte, der zwar mit ihr in die Pyrenäen zum Wandern fahren wolle, der aber fast noch gar nicht braun sei, obwohl der Strand doch so einladend und in der Nähe. Er habe nur seine Arbeit im Kopf, da brauche er sich keine Sorgen zu machen, sie liebe ihn und freue sich sehr darauf, ihn wieder in ihre Arme nehmen zu können und mit ihm all das und noch mehr nachzuholen, was sie in diesem halben Jahr ihres Barcelona Aufenthaltes nicht hätten zusammen erleben können. Wie sehr sie sich darauf freue!

Nun stand sie vor ihm, machte aber das, was sie mit ihm eigentlich machen wollte, vermutlich mit diesem unerotischen, kaum gebräunten Mann, der offensichtlich außer seiner Arbeit doch zumindest ab und zu etwas anderes im Kopf hatte.

Für diesen Mann hatte Shana ihn verlassen und sie lächelte, während sich auf seiner Stirn kleine Schweißtropfen bildeten.

Aber auch sie schien berührt, ein leichter, rötlicher Schimmer lag auf ihrem Gesicht, es ähnelte ihrem Ausdruck, wenn sie Liebe gemacht hatten, vermutlich aber war das von ihm eine Überinterpretation, sie wurde leicht rot, was ihr etwas Schamhaftes verlieh, was sie umso anziehender und unwiderstehlich machte, wenn sie die Scham fallen ließ.

"Anastasiya, ich will dich, will dich, will dich", dachte er und sagte: “Lass uns zusammen etwas essen gehen.”

“Wie geht es Deinem Amoroso?”, versuchte er zu scherzen, etwas plump, aber es stimmte doch, dieser unerotisch-erotische Neu-Favorit.

“Er hat sich endlich den Schnäuzer abrasieren lassen”, (sie beginnt ihn also nach ihren Vorstellungen zu gestalten, denkt er) “und gestern waren wir zusammen einkaufen, er kleidet sich jetzt modern und sportlich.” Aha, Kleidung hat durchaus sehr viel mit persönlicher Ausstrahlung und Erotik zu tun, gut, ich verstehe es sogar, dachte er weiter. 

“Ich werde jetzt einen Gedichtband veröffentlichen.” Er wollte ihr von seinem Durchbruch erzählen und fühlte sich durch das seiner Meinung nach sehr gelungene Gedicht "Charybdis" dazu ermutigt.

“Tatsächlich? Wieviel Gedichte sollen darin erscheinen?”

“Sechzig bis achtzig” antwortete er, begann aber erneut zu schwitzen.

“Gut, nicht zu viel, das wäre auch nicht gut!”

War das jetzt Spott, Ironie, glaubte sie nicht, dass er nach den vielen Jahren des inneren und letztlich äußeren Kampfes den Durchbruch, diesmal tatsächlich, erzielt hatte, dass jetzt vieles, sehr vieles anders werden würde, er wahrscheinlich Lesungen geben würde?

Erneut ihr offenes Lächeln, kein Hohn, kein Spott, nur der Wunsch, es möchte endlich besser mit ihm werden, Hoffnung für ihn, dass etwas eingetreten sei, zwar spät - zu spät, um sie zurückzugewinnen - aber etwas, das sie ihm aus verbliebener, gereifter Liebe von ganzem Herzen wünschte.

Gedichte seien keine leichte Kost, fuhr sie freundlich fort, einen Gedichtband könne man ja nicht lesen wie einen Roman. Ob er ihr sein bisheriges Schaffen zeigen wolle.

"Selbstverständlich", bei einem nächsten Treffen würde er ihr ein vorläufiges Manuskript überreichen.

Ja, gerne würde sie sich mit ihm noch einmal treffen, am Freitag in einer Woche sei sie wieder da, sie könnte nach dem Seminar im Café "Die Lilie" sein.

Das rührte ihn, ein Gefühl tragisch schönen Schmerzes begann in ihm aufzusteigen. 

Nach dem Essen ging er mit ihr über gefallenes und gelb-rötlich gefärbtes Laub der Platanenallee, hinauf zum kleinen Rasenhügel, den Blick auf die sich senkende Sonne, deren Licht die Ränder grauer Wolken hell und glänzend erscheinen ließ. “Ein Bild wie ein Symbol für meine Seele” sagte er mit einer Mischung aus Wehmut und Selbstmitleid. Sie antwortete nicht, sondern schob ihren Arm unter den seinen und schmiegte sich leicht an ihn.

Er brachte sie zur Straßenbahnhaltestelle, wollte sich von ihr verabschieden, doch bittet sie ihn mitzukommen, sie bis zum Bahnhof zu begleiten.

Auf einer Bank für zwei setzen sie sich nebeneinander, sie ergreift erneut seinen Arm, hakt sich unter und schmiegt ihre Wange an seine Schulter, sagt aber nichts.

Er ist unsicher, ob er etwas sagen soll, doch wozu, denkt er und lässt sich gleiten, er will nur fühlen, dass sie jetzt wieder für eine kurze Zeit neben ihm ist, sich an ihn schmiegt, drückt ab und zu ihren Arm und sie schmiegt sich ab und zu etwas stärker an, bis sie am Bahnhof ankommen.

Beim Aussteigen fühlt er Glück und Beklemmung, weiter schweigend gehen sie zum Bahnsteig, ihr Zug rollt ein, Lautsprecher scheppern, Menschen wimmeln um sie herum, Tauben flattern auf, sie stehen einander gegenüber, schauen sich in die Augen, er ist wieder traurig und wahrscheinlich kann sie es an ihm sehen.

Er sagt dann: "Du musst einsteigen", sie lächelt wieder, und er sagt, "Wenn Du mich so anlächelst, bekomme ich den Wunsch, Dich zu küssen."

Da überfliegt tiefes Rot ihr Gesicht und sie antwortet: "Wenn Du mich küsst, weiß ich nicht, was mit mir geschieht".

Ein Pfiff, der letzte Aufruf einzusteigen, "Du musst jetzt einsteigen" sagt er. Sie hebt die Arme: "Komm, schnell, umarme mich", er umfasst sie, drückt sie und spürt ihre Brust, sie presst sich an ihn, er spürt ihre Hüften, sie sucht mit ihrem Mund seinen Hals, küsst die Haut.

Der Schaffner steht in der Tür des Wagons, sie läuft los, lässt ihn aber nicht los, reißt ihn mit, steigt ein und zieht ihn auch hinein, geht rasch, sucht ein Abteil für sie allein und zieht die Vorhänge zu.