Donnerstag, 22. Dezember 2016

Der Weihnachtsbrief, Teil 3!

Während sie dalag, das Gesicht auf dem Tisch in ihren Händen verborgen, trat ein junger Mann an sie heran, legte begütigend seine Hand auf ihre Schulter und begann über ihren Rücken zu streicheln! Sie schaute auf zu ihm, in sein schmales, ein wenig welk wirkende aber hübsche Gesicht, sein Lächeln mit einigen dunklen Verfärbungen der sonst sehr weißen und ebenmäßigen Zähne vom Rotweintrinken und Tabakrauch, sah, dass er in der anderen Hand eine selbstgedrehte Zigarette oder Joint hielt und sagte, "Danke! Es geht schon!".

Der junge Mann nahm das zum Anlass sich den Stuhl von der anderen Seite des Tisches heran zu ziehen, setzte sich neben sie und streichelte sie nun intensiver, während er einige Male sie an sich  zog und aufmunternd gemeint drückte. Er sprach davon, dass er ihre Gefühle sehr wohl kenne, Weihnachten mit seiner Provokation äusserster Heuchelei in einer durchaus verrottet zu nennenden Welt hätte auch ihn schon manches Mal verzweifeln lassen. Er machte eine kleine Pause und zog an seiner Zigarette. Dann fragte er, ob er seinen Wein holen dürfe. Sie nickte.

Während er ging, wurde ein neues Lied gespielt, "Don´t give up" mit Peter Gabriel und Kate Bush, sie kannte es gut und hatte sich schon oft tief davon berühren lassen. "In this proud land we grew up strong...I was taught to fight, taught to win, i never thought I could fail! .. no one wants you when you lose." Keiner will dich, wenn du verlierst, wenn du ein loser bist! Das war es! Sie hatte gekämpft und hatte verloren, nicht einmal, nicht zweimal, eigentlich fast immer! Sie hatte verloren, weil sie Fehler gemacht, sie hatte verloren, weil Mamma diesen Unfall gehabt hatte, sie verloren, auch wenn sie gekämpft hatte, denn wenn Du den Spott und die Scham einmal besiegt hast: Sie kommen immer, immer wieder, jeden Tag, jeden Abend das gleiche Gefühl, das mit Melancholie nur unzureichend beschrieben ist, das Gefühl, dass hinter all dem schönen Schein etwas entsetzliches lauert, das darauf wartet, dich zu verschlingen!

Der junge Mann war mit seinem Glas Rotwein zurückgekehrt und legte seine  Hand wieder um ihre Schulter!

"Kannst Du bitte Deine Hände von mir lassen. Ich habe Dich nicht dazu eingeladen!" Sie stand auf, der junge Mann sah, dass sie ihr rechtes Bein nicht beugen konnte und schob ruckartig den Stuhl zurück, um Platz zu machen. Er habe nichts Böses gewollt.

"On the lakeside, as daylight broke, I saw the earth, the trees had burned down to the ground" hörte sie singen. Dahin wollte sie gehen, zum See, sie wusste, wie man auch abends in den Park kam, niemand würde dort sein. Es war nicht kalt und sie fühlte, wie sich innerer Druck mit dieser Entscheidung löste, hinaus aus diesem stickigen Cafe, in den Park, wo sie oft mit David im See geschwommen. Noch einmal wollte sie die Allee hinauf gehen, die niederländischen Portiershäuser entlang, zur altägyptischen Statue, in die Orangerie, sich auf ihre Lieblingsbank setzen mit dem schönen Blick über den sanft abfallenden Wiesenpark und dem Schloss im Hintergrund und zur Badestelle, an der sie mehrfach nachts in Liebe mit David vereinigt!

Die Liebe ist ein herrliches Gefühl und sie gönnte es jeder und jedem, in Liebe zu schwelgen! Wenn Du aber ein Loser bist, dann hoffe nicht, dein Leben in diesem Gefühl verbringen zu dürfen. Mamma war nach dem Unfall krank geworden, dafür konnte sie nichts, Papa musste sich um Mamma kümmern und ihren Geschwistern war sie fremd geworden, denn sie hatte sich selbst stark verändert. Sie war keine schlechte Schülerin gewesen, aber seit dem Unfall fragte sie sich, wozu es dieses schreckliche Leiden gäbe, warum es manche träfe und andere Menschen ein weitgehend beschwerdefreies Leben führen durften. Es war eine schreckliche Ungerechtigkeit, denn irgendeine Schuld war meistens nicht zu finden am Unglück sowenig wie Verdienst bei jenen, denen es augenscheinlich gut ging. Ihre Fragen und Überlegungen konnten ihre Mitmenschen und Schulkameraden nicht in dem Maße teilen, wie es sie innerlich beschäftigte und so galt sie mehr und mehr als seltsam, als gestört, als äußerlich behindert und psychisch krank!

So schwer es war, das zu akzeptieren, ihre Antwort aber war, dass es oft Zufall war und dieser Zufall machte einige zu Winnern, andere zu Losern.

Sie war Loser. Innerhalb der Loser gab es Loser, die das akzeptieren konnten und es gab Loser, die das nicht akzeptierten. Sie gehörte zu lezteren, hatte ehrgeizige Pläne, wollte in der Stammzellforschung Großes vollbringen, merkte aber schnell im Studium, dass jede Auseinandersetzung, jedes auch nur mittleschwere psychische Erleben, das mit Problemen verbunden, sie aus dem Tritt brachte, sie sich nicht mehr konzentrieren konnte, sich eine für sie letztlich unerträgliche Spannung aufbaute. Oft hatte sie dann David angerufen oder sich mit ihm getroffen. Wenn er neben ihr saß, konnte sie wieder arbeiten, gut arbeiten, aber er musste da sein oder in ihrem Herzen, liebevoll lebendig in ihrem Herzen sein, anders konnte sie sich zu oft nicht konzentrieren!

Er hatte sich einmal besorgt darüber geäußert, sie dürfe nicht abhängig von ihm werden, sie hatte geantwortet, das wisse sie, in Wahrheit aber war sie abhängig. David lag jetzt bei einer anderen Frau und den Gedanken würde sie nicht ertragen, nicht auf Dauer, das wusste sie. Leiden hat kein Recht dich langsam aufzufressen, sagte ihre innere Stimme!

All das, was nun geschah, hatte sie geahnt, sie hatte es in kleinen Kapiteln als Furcht in ihr Tagbuch geschrieben, jetzt war die Stunde da. Sie dachte wieder an David. David war nur ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch, behandelt aber hatte sie ihn, als sei er ihr Gott. So konnte sie nicht erkennen, dass David im Grunde ein unzuverlässiger Mensch war, ein unreifer Mensch. 

Mit einem Schlag wurde ihr klar: David war selbst ein zutiefst verletzter Mensch, bevor er mit ihr zusammenkam! Sie erinnerte sich genau an den Jubel, als seine Exfreundin sich wieder bei ihm gemeldet, wegen der er sehr gelitten, an seinen Triumph, denn sie hatte gefragt, ob sie sich treffen könnten. Darum war er so überraschend mit ihr zusammengekommen. Er wollte sein eigenes Leiden mindern, nachdem er verlassen worden war, er wollte seinen Schmerz erträglich machen, seine Kränkung überspielen. Nachdem ihn die als eine der angesehensten Schönheiten der Universität hatte fallen lassen, suchte er Trost und Zuspruch, wollte er zum Gott erhoben werden und das war möglich mit ihr, deren rechtes Bein bis kurz unter dem Becken zerquetscht worden war, so dass man es amputieren musste, und seitdem nicht nur körperlich behindert, sondern stärker sogar psychisch! David hatte sie unbewusst aber zielgenau "erwählt", um sein eigenes verletztes Ich wieder aufzubauen und in neuem-altem Glanz  erstehen zu lassen. Das war ihm gelungen, nun begann die Zeit, sich wie zuvor um die Schönheiten dieser Welt zu kümmern und nicht um einen Krüppel, die einer Klette gleich an ihm hing und die Freude am Leben auf Dauer in nicht zu duldender Weise einschränkte!